SÜDKURIER, 9. Juli 1996
Der Pinocchio-Komplex

»Die heilende Kraft des Lachens« von Michael Titze

Von Doris Baum

»Es war einmal ein Stück Holz«, so beginnt das Märchen Pinocchio und das 1. Kapitel dieses Buches. Der Autor bedient sich dieser Geschichte und beschreibt immer wieder einzelne Szenen aus dem Collodi-Märchen, die er dann ausführlich dem Heranwachsen eines Kindes gegenüberstellt Auf dem Weg zu Pinocchios Metamorphose zu einem lebhaften, glücklichen und zufriedenen Jungen aus Fleisch und Blut muß er viele Erniedrigungen als Hampelmann erdulden - er fühlt sich in dieser Rolle nicht wohl und wirkt auf andere komisch.

Titze bezeichnet dieses Leiden, projiziert auf den Menschen, als den sogenannten »Pinocchio-Komplex.« Kinder von selbstbezogenen Eltern, die nicht um ihrer selbst willen geliebt werden, können sich als heranwachsende Menschen nicht entfalten, sie werden in ihrer expansiven Bewegung gehemmt, was wiederum zu einer Einschränkung des Lebensmutes und zu tiefem Mißtrauen führt. Die zu hohen Erwartungen und oft negative Einstellung der Erzieher kann so zur Entfremdung der Lebenskraft des Kindes führen, es nimmt eine unnatürliche Haltung an und wirkt auf andere komisch. Der Autor, der gleichzeitig als Psychotherapeut arbeitet, beschreibt einzelne Fallbeispiele, die er in der Praxis erlebt hat. Die einzelnen Elemente werden in einer zusammengefaßten Lebensgeschichte von einer fiktiven Person namens »Docht« repräsentiert. In Collodis Märchen verkörpert »Docht« Pinocchios Freund.

Titze möchte mit seinem Buch verdeutlichen, wie frühe Beschämungen durch Therapeutischen Humor geheilt werden können, wie Pinocchio selbst bei seiner Rückverwandlung seine hölzerne Gestalt ablegt. Mit Hilfe der modernen Psychotherapie kann der Klient aus seiner zwanghaften Angepaßtheit befreit werden. Konflikte werden im Rahmen einer Gruppentherapie in Szene gesetzt, um die Methoden des Therapeutischen Humors anzuwenden. Voraussetzung hierfür allerdings aber ist, daß die einzelnen Klienten mit den Entstehungsbedingungen der Schamangst in der Kindheit konfrontiert werden. Titze beschreibt unterschiedliche Wege der Befreiung der Schamangst wie beispielsweise die Einübung zum »Mut zur Lächerlichkeit«.

Zu guter Letzt bietet Waleed A. Salameh im Anhang des Buches noch Hilfe zur Selbsthilfe, wie das Lachen wiedererlangt werden kann, so daß sich allmählich die (Rück-)Verwandlung zum lebendigen Leben anbahnen kann.