Télécran - Das Luxemburger Magazin, 6.-12. Februar 2016, S. 22–23
 
«Die Zahl der passiven Lacher wächst»
 
Télécran: Warum hat man als Kind und in der Jugend wesentlich häufiger Lachkrämpfe als später im Erwachsenenleben? Gibt es später weniger zu lachen?
 
 

Michael Titze: Kinder, aber auch etliche Jugendliche folgen dem sogenannten Lustprinzip. Dieses zielt darauf ab, die eigenen affektiven Bedürfnisse nach «Lust und Laune» auszuleben. Doch dem steht das Prinzip des geregelten sozialen Lebens entgegen, welches für den angepassten Erwachsenen bestimmend ist. Hier ist der «Ernst des Lebens» am Zuge und dementsprechend gibt es weniger zu lachen als in den anarchischeren Zeiten von Kindheit und Jugend.
Doch gerade in katholisch geprägten Regionen gibt es seit jeher ein zeitweiliges Ventil, das den drögen Ernst des Erwachsenenlebens mit der frischen Luft kindlicher Lebenslust versorgt: Das ist in der Zeit von Fastnacht und Karneval der Fall, in der die Regeln von Vernunft und Moral «auf den Kopf gestellt werden»!

Télécran: Lachen wir auch deswegen weniger, weil es sich als Erwachsener aufgrund von gesellschaftlichen Vorgaben, die man als Kind noch nicht kennt, nicht geziemt, über bestimmte Dinge zu lachen?

Michael Titze: Fest steht, dass in den letzten Jahrzehnten die Depressionsanfälligkeit in Europa und den USA stark gestiegen ist. In Regionen also, in denen das Leistungsprinzip sehr ernst genommen wird, so dass zunehmend viele Menschen im Banne eines Perfektionismuszwanges stehen, der sie um echte Lebensfreude bringt. Denn aufgrund einer permanenten Überforderung lassen sich echte Erfolgserlebnisse kaum noch erzielen. Wenn sich jemand die Messlatte beim Hochsprung auf zwei Meter legt, wird er unweigerlich eher versagen als jemand, dessen Ziel lediglich ein Meter ist! Dies könnte auch erklären, weshalb Menschen in der Dritten Welt trotz ihrer Armut und beruflichen Perspektivlosigkeit im Allgemeinen weit fröhlicher erscheinen als die wohlsaturierten Menschen aus entwickelten Industriegesellschaften.

Télécran: Ist es nicht auch so, dass früher mehr gelacht wurde als heute?

Michael Titze: In der Tat. Aus einer Studie ging hervor, dass die Westdeutschen in den frühen 50er-Jahren täglich dreimal so viel gelacht hatten als in der Gegenwart. In einer Zeit also, in der es den meisten materiell wesentlich schlechter ging als heute! Auch hier könnte die Erklärung lauten, dass die Ziele, die sich die damalige Generation setzte, wesentlich weniger hoch angesetzt waren als heutzutage.

Télécran: Wurde denn früher nicht nur mehr, sondern auch anders gelacht als heute?

Michael Titze: Untersuchungen belegen dies, ganz genau. In Zeiten, in denen es noch keine elektronischen Medien gab, blieb den Menschen keine andere Wahl, als sich zusammen zu tun und sich gegenseitig Geschichten zu erzählen, gemeinsam zu musizieren oder Gesellschaftsspiele durchzuführen. Bei all diesen Aktivitäten gehörte unweigerlich Lachen dazu, so dass sich echte «Lachgemeinschaften» herausbilden konnten. Diese gibt es heute auch noch. Aber die Zahl der «passiven Lacher» wächst: Das sind Menschen, die sich vornehmlich durch Medienangebote zum Lachen anregen lassen, ohne einen eigenen Beitrag zum Lacherfolg zu erbringen.

Télécran: Woher stammt eigentlich das Phänomen der Schadenfreude?

Michael Titze: Der Ursprung der Schadenfreude liegt in Rivalitätskämpfen von Kindern. Kinder sind im Vergleich zu Erwachsenen weitgehend inkompetent, doch im Vergleich zu jüngeren, schwächeren, ängstlicheren, also weniger kompetenten Kindern können sie problemlos ein Kompetenzvergnügen erleben, das alle Minderwertigkeitsgefühle kompensiert. Der positive Effekt, der sich aus solchen «Abwärtsvergleichen» ergibt, ist für die Stabilisierung des Selbstwertgefühls auch in späteren Lebensphasen von großer Bedeutung. Daher ist zum Beispiel der Slapstick-Humor so beliebt: Wenn jemand zum Beispiel auf einer Bananenschale ausrutscht, verliert er oder sie augenblicklich den Stand, auch im übertragenen gesellschaftlichen Sinne. Derjenige, der ihn dabei beobachtet, ist eindeutig in der «besseren Position», so dass er oder sie unbedingt etwas zum Lachen hat.

Télécran: Gibt es verschiedene Lachtypen? Etwa den «In-Sich-Hinein-Lacher» und den Schenkelklopfer?

Michael Titze: Ja, diese unterschiedlichen Typen gibt es, und zwar in Abhängigkeit vom jeweiligen Temperamentstyp. Schon in der Antike wurden vier Temperamentstypen unterschieden: Der jähzornige Choleriker, der schwermütige Melancholiker, der stumpfsinnige Phlegmatiker und schließlich der lebenslustige, fröhliche Sanguiniker. Zu jedem dieser Typen gehört ein spezifisches Lachen: So neigt der Choleriker zum «brüllenden Lachen», der Melancholiker zum «sardonischen», sprich: schadenfreudigen Lachen» und der Phlegmatiker zu einem flachen «dümmlichen» Lachen. Nur der Sanguiniker beherrscht die Kunst, ein Lachen entstehen zu lassen, das andere «mitreißt», weil es ansteckend ist.

Télécran: Entscheiden die Gene, ob man laut herausprustet oder allenfalls ein breites Lächeln an den Tag legt?

Michael Titze: Der Psychiater Ernst Kretschmer hat bereits in der 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts nachgewiesen, dass Temperamentstypen auf genetischer Veranlagung beruhen. Allerdings sind Umwelteinflüsse insofern von Bedeutung, als sie die Ausprägung des jeweiligen Typs entscheidend akzentuieren. Wer also ein Sanguiniker ist und in einer lebensfrohen Familie aufwuchs, der oder die hat sehr gute Chancen, sich zu einem echten Humoristen zu entwickeln.

Télécran: Hängt es auch von der Nationalität ab, welchen Bezug man zum Lachen hat? Gibt es Erkenntnisse über das Lachverhalten der Luxemburger?

Michael Titze: Die nationale Mentalität bestimmt einen guten Teil der eben erwähnten Umwelteinflüsse. Und diese wiederum sind abhängig von verschiedenen Faktoren wie Religionszugehörigkeit und landschaftlichem Ambiente. Wer also – wie die Luxemburger – in einer katholischen Umgebung groß wird, in der sich die sinnenfrohe Atmosphäre einer jahrhundertealten Weinanbaukultur mit auswirkt, der oder die hat sehr gute Voraussetzungen, sich zu einem lachfreudigen Humoristen zu entwickeln, insbesondere dann, wenn er oder sie temperamentmäßig zu den Sanguinikern gehört.