Neue Zürcher Zeitung, 8.7.2016, S. 53
 
Zum Teufel mit der Vernunft
 

Von Daniele Muscionico
Bericht über einen Beitrag zum Symposium «dada, ich und über(m)ich» des Sanatoriums Kilchberg am 23. Juni 2016 in der Aula der Universität Zürich

 
 

Er ist der Händler einer verbotenen Droge. Wo wird man ihn treffen? Michael Titze schlägt eine Autobahnraststätte in Süddeutschland vor. Hier ist es still, still werden Geschäfte getätigt. Keiner kümmert sich um den Herrn vor einem Automatenkaffee. Wiewohl er durchaus Verhaltensauffälligkeiten zeigt: Der Gesuchte trinkt seinen Kaffee nicht zum Kuchen, sondern zur Lektüre von Fachartikeln, Vorträgen, den Ergebnissen seiner 40-jährigen Forschung. Jüngst hielt er in der Aula der Universität Zürich die begeistert akklamierte Vorlesung «Dada und die paradoxe Psychotherapie». Er war Gast eines Symposiums auf Einladung der Manifesta und des Sanatoriums Kilchberg.
Michael Titze behandelt ein soziales Phänomen besonderer Art, eines nämlich, das in jeder seriösen westlichen Institution Zutrittsverbot hat. Er verhandelt das H-Wort, das Machthaber verachten und ernstzunehmende Erwachsene scheel beäugen. Titze hält feil, was in unserer Gesellschaft justiziabel sein kann: Er forscht über Humor.
Böhmermann, Erdogan – und immer wieder Mohammed. Man lacht oder lacht nicht. Oder dann lacht man einmal und nie wieder. Der Psychotherapeut und Psychoanalytiker Titze ist ein gefragter Wissenschafter in Zeiten, in welchen satirekritische Politiker, Populisten, Revanchisten, Nationalisten, Ideologen jeder Couleur an der Macht sind. Titzes Spezialgebiet ist die Ideologie – und ihr Paradox, die Gelotologie, die Lachforschung.

«Unsere Gesellschaft schreibt dem Menschen ja vor, was ihn glücklich macht.»
Die Ideologie suggeriert Gewissheiten. Humor ist ihr Gegenteil, Lachen verunsichert, stellt Fragen und stellt infrage. Lachen verweigert sich jeder Ideologie, geht auf Distanz und unterminiert sie auf anarchische Weise. Der deutsche Wissenschafter hat der Lachforschung, der Gelotologie, den Begriff der «Gelotophobie» zur Seite gestellt: die Bezeichnung für die Angst, ausgelacht zu werden. In seinem Buch «Die heilende Kraft des Lachens. Mit Therapeutischem Humor frühe Beschämung heilen» beschreibt Michael Titze als Erster den Pinocchio-Komplex. Dieser bezeichnet Menschen, die sich als Kind, allenfalls aufgrund hoher elterlicher Erwartungen, nicht entfalten konnten und aus Angst, falsch oder komisch zu wirken, in ihrer Bewegung und Energie gehemmt sind: Sie wirken «hölzern». Zum Begriff «Gelotophobie» angeregt wurde Titze vom Papst der Gelotologie persönlich, dem Stanford-Professor William F. Fry.
Titze hat den Grossen in San Diego mehrmals besucht und ihn in Europa auf Kongressen übersetzt; Fry als Mitglied der Palo-Alto-Gruppe hat den deutschen Kollegen wiederum mit Paul Watzlawick und dessen Kommunikationstheorien bekannt gemacht, Watzlawick war Frys Zimmernachbar in San Diego. Fry wie Watzlawick sind für Titzes Arbeit und Sicht des Menschen prägend. Prägend war aber auch die grosse Persönlichkeit des Holocaustüberlebenden Viktor Frankl, Begründer der Logotherapie und der Existenzanalyse. Unvergessen die Abende mit Frankl, ein Schüler von Alfred Adler wie Titze selbst, nachhaltig die Erinnerung an die Menschlichkeit des Älteren. Frankl forderte Titze auf, ein Buch über die Heilkraft des Humors zu schreiben. Es sollte das erste massgebende Werk über Therapeutischen Humor überhaupt sein.
Paul Watzlawicks Interesse an den Forschungen des Deutschen wiederum war so gross, dass er den ersten Humor-Kongress in Basel (1996) besuchte, den Titze mit René Schweizer (1943–2015) gegründet hatte, jenem Basler Post-Dadaisten, der als Künstler und Autor von Juxbriefen an die Behörden im kleinen Kreis kultisch verehrt wurde. Schweizer hat auch das Phänomen des Lach-Yoga in Europa soziabel gemacht; er lud den indischen Yogalehrer Madan Kataria nach Basel ein.
Der Weggefährte Schweizer, der beispielsweise im Fundbüro den Verlust seines Verstands meldete (worauf die Beamten prompt eine Anzeige aufsetzten), besass wohl im Übermass, was aus der Sicht von Titze heutigen Politikern, Ideologen allzu fern liegt: Humor und Selbstironie, die Distanz zur eigenen Autorität. Wer ihnen mit Humor begegnet, soll nichts zu lachen haben.

«Die Gelotophobie ist als Phänomen bei führenden Persönlichkeiten weit verbreitet. Denken Sie an Erdogan! Man weiss auch über Hitler, dass er Gelotophobiker war.» Eine grossangelegte internationale Studie über Gelotophobie in über 70 Ländern kam zu einem frappanten Fazit: Die Angst, ausgelacht zu werden, oftmals mit Schamdepression verbunden, soll vor allem im Nahen Osten und in Südostasien weit verbreitet sein. In Ländern, in welchen die Ehre und der Gesichtsverlust ein konstituierender Bestandteil sozialer Prägung sind, neigen Menschen natürlicherweise dazu, Beschämung zu vermeiden.

«Viele haben eine Historie von Beschämung und Erniedrigung hinter sich.»
Die Angst, ausgelacht zu werden als Folge von Beschämung, der Selbstwahrnehmung von Minderwertigkeit und existenziellem Versagen: Michael Titze, lange Jahre Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission der Internationalen Vereinigung für Individualpsychologie und Gründungsvorsitzender des Vereins Humor Care Deutschland und Österreich, kann in der Mehrheit der Biografien von Selbstmordattentätern oder Amokläufern an Schulen feststellen: «Viele haben eine Historie von Beschämung und Erniedrigung hinter sich. Sie werfen ihr Leben nicht einfach weg, sie wollen ernst genommen werden und dem existenziellen Gefühl der eigenen Lächerlichkeit entkommen.»
Titzes Diagnose unserer Gesellschaft fällt nicht gut aus. Unsere Zeit ist die Postpostmoderne, die sich nach Ideologien ausrichtet und sich von der Political Correctness tyrannisieren lässt. In Deutschland gibt es bereits die Diskussion, ob man noch Flüchtling sagen darf oder ob «Flüchtende» nicht weniger diskriminierend sei. Der moralische Druck innerhalb der Gesellschaft ist gross. «Man kann heute alles falsch machen. Aber in dem Wunsch, alles richtig zu machen, ist man über das Ziel hinausgeschossen.»

«Unsere Gesellschaft schreibt dem Menschen ja vor, was ihn glücklich macht.»
Wir alle wollen perfektionistische, zuverlässige Erwachsene sein. Nichts Schlechtes, im Grunde. Doch gefährlich dann, wenn der Druck, keine Fehler zu machen, wenn der Erfolgsdruck, unter dem wir stehen, dazu führt, dass wir uns als ungenügend und beschämt erleben. Gefährlich, wenn der Zugang zu den eigenen Gefühlen durch Erfolgsversprechungen des Kollektivs so verstellt ist, dass wir uns an Ideale halten. «Unsere Gesellschaft schreibt dem Menschen ja vor, was ihn glücklich macht.» Und wenn nicht? Wenn sich beim Einzelnen das Glücksgefühl in der Tiefe dennoch nicht einstellt? Wenn sich als Lohn für Anpassung und Leistung, Schönheit oder Karriere tief innen doch kein gutes Gefühl regt?
Dann wird sich Leere ausbreiten. Dann zum Beispiel, weiss Titze aus seiner Praxis, greift man zur «Selbstmedikation Alkohol». Dann ist man empfänglich für politische, ethische, moralische Rattenfänger. Dann hat der Ideologe das Wort und die Macht. «Ideologien und Ideale sind gemacht, beim Menschen starke Gefühle auszulösen.» Wer Macht über die Gefühle der Menschen hat, besitzt Macht über ihr Wesen. Das Geheimnis der Ideologen ist gemäss Titze ihr Wissen um die Manipulation unserer Gefühle. «Doch das konnten die Religionen früher viel besser.»
Titzes Befreiungstheologie ist der Humor. Doch wie diesen auf die grossen Weltgreuel oder wenigstens auf die kleinen nationalen Brandherde anwenden, auf die AfD, zum Beispiel?
Entscheidend für ihn ist, dass man beständig auf der Suche nach Begegnung mit den Menschen sei. Doch die derzeitige Diskussion in Deutschland zeigt, dass jene, die sich etwa der AfD anschliessen, sogar von offizieller Seite als «Pack» beschimpft werden. «Durch gutgemeintes Dagegenhalten werden sie paradoxerweise in eine Richtung getrieben, in der man sie nicht haben will.»
Gelassenheit und Humor schlägt Titze als Rezept vor. Vor allem die Suche nach Austausch und Gespräch. «Wir müssen auch unsere eigene Position infrage stellen, nur so können sich Ideologien aufweichen und echte Dialoge stattfinden.» Taktischer Wahnsinn wäre die Antwort. Denn verrückt ist nur der, dem misslingt, die eigene Vorstellung von Norm zu verrücken.