Paradoxe Doppelbindungen und komische Kontraste: Das kreative Prinzip der Humorentstehung
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Von Michael Titze
Aus: Psychologie in Österreich, 26, 4&5, September 2006, S. 301-305
»Der wahre Zustand der Welt ist für den Humoristen eine Summe von Fehlern, Übeln und Leiden. Aber diese Einsicht ist ihm kein Grund zur Klage, denn er betrachtet die Menschenwelt als eine Übergangslösung, als eine winzige Episode, die zu dem Hintergrund des Ewigen und Unendlichen in lächerlichem und komischen Kontrast steht.« Gerhard Theewen (1992, 115)

Abstract: Der Humor bedarf der Gegensätze, Widersprüche und der paradoxen Doppelbindungen, um sich entfalten zu können. So werden Kontraste geschaffen, die verblüffend, zuweilen auch befremdlich, häufig aber erheiternd und – vor allem – inspirierend sind! Diese komischen Kontraste zu einer »Einheit des Gegensinnigen« (Plessner) bzw. zu einer innovativen Synthese zu verschmelzen, das ist die kreative Leistung des Humors!

Paradoxical double-binds and comical contrasts: The creativity of humor emergence


1. Kreative Flexibilität – die Forderung unserer Zeit

Vor 27 Jahren erklärte Jean-Francois Lyotard ([1979] 1999) die Epoche der "großen Meta-Erzählungen" für vergangen. Er verglich die Situation des "postmodernen" Menschen mit einem Schauspieler, dem man das Drehbuch weggenommen hat. Nun soll dieser im großen Welttheater improvisieren, also die Spielregeln mit anderen Schauspielern aus dem Stegreif abstimmen.
Diese Auflösung festgefügter Orientierungsmuster fördert »paralogische« Prozesse (ebd., 32), die ihren Ursprung gerade dort haben, wo festgefügte rationale Systeme an ihre Grenzen stoßen: wo die Kontinuität eines geregelten Determinismus abbricht. So entstehen logische Widersprüche, chaotische Antagonismen und paradoxe Kommunikationsstile. Nach Lyotard (ebd., 38) bemühte sich das tradierte Denken, Paralogien aufzulösen, indem diese aus dem rationalen Bezugssystem heraus verstehbar gemacht werden sollten. Das postmoderne Denken steuert dagegen bewusst auf Paralogien zu! Wolfgang Welsch (1997, 34) postuliert, der postmoderne Mensch sei nachgerade an eben jenen Grenzbereichen und Konfliktzonen interessiert, »aus denen Unbekanntes und der gewohnten Vernunft Widerstreitendes (Paraloges) hervorgeht«. Insgesamt zielt dieses Interesse auf die Entstehung von innovativen Intelligenzleistungen bzw. kreativen Prozessen ab.
Der Computer-Wissenschaftler Douglas R. Hofstadter (1986), der sich unter anderem auf die Erkenntnisse von Kurt Gödel stützt, hat dieses »Herausspringen aus dem System" (ebd., 41) generell als Voraussetzung für kreatives Denken ausgewiesen. Denn im Gegensatz zum linearen "Denken" von Computern, die Hofstadter (ebd., 29) für die "unbeweglichsten, wunschlosesten, regeltreuesten Tiere" hält, ist die kreative Intelligenz nonkonformistischer Menschen durch folgende Kriterien charakterisiert:
  • sehr flexibel auf die jeweilige Situation reagieren;
  • günstige Umstände ausnützen;
  • aus mehrdeutigen oder widersprüchlichen Botschaften klug werden;
  • die relative Wichtigkeit verschiedener Elemente in einer Situation erkennen;
  • trotz trennender Unterschiede Ähnlichkeiten zwischen Situationen finden;
  • trotz Ähnlichkeiten, die zu verbinden scheinen, zwischen Situationen unterscheiden können;
  • neue Begriffe herstellen, indem man alte Begriffe auf neuartige Weise zusammenfügt;
  • Ideen haben, die neuartig sind.
  • Genau das sind auch die Voraussetzungen für die Entstehung von Humor – dem "Hintereingang zum Allerheiligsten der schöpferischen Originalität" (Koestler 1990, 131).



2. Zwei unterschiedliche Bezugssysteme

Schon 1776 führte der englische Philosoph James Beattie die Entstehung von Humor auf die Verschmelzung »von zwei oder auch mehreren unzusammenhängenden, unpassenden oder widersprüchlichen Teilen oder Zusammenhängen [zurück], so dass eine ganz eigenartige Beziehung zwischen ihnen hergestellt wird« (zit. nach Preisendanz 1974, 889).

Alfred Adler ([1927] 1982) brachte die komische Wirkung des Witzes mit dem Aufeinanderprallen von zwei Bezugssystemen in Zusammenhang, die die kognitiven Prozesse des Menschen auf verschiedenartige Weise bestimmen (vgl. Titze 1986). Das (auch in ontogenetischer Hinsicht) erste Bezugssystem sah Adler (ebd., 105) durch einen "logischen Eigensinn" charakterisiert, der für die "private Logik bzw. Weltanschauung" von Kindern, "Primitiven", Geisteskranken und Künstlern charakteristisch ist. Das zweite Bezugssystem umfasst nach Adler »alle Logik, alle Weltvernunft, und in seinem Sinne erwarten wir normale Bewegungen eines Individuums« (ebd.). Daraus lässt sich folgern: Zum Lachen regt der plötzliche Übergang aus der vernünftigen Erwachsenenwelt in die unvernünftige Welt des Kindes oder des Narren an.

Im folgenden möchte ich diese beiden Bezugssyteme , aus denen sich die zielgerichteten Strategien unserer Motivation herleiten (vgl. Titze & Patsch 2006), etwas ausführlicher darstellen:

Das 1. Bezugssystem ist emotional geprägt. Seine Strategien zielen darauf ab, auf die Sonnenseite des Lebens zu kommen – also sich wohl, (selbst)sicher und stark zu fühlen. Dies entspricht der ursprünglichen Motivation eines Kindes, weshalb wir von Kindheits-Strategien oder kurz K-Strategien sprechen können. K-Strategien sind unreflektiert, impulsiv und intuitiv. Insgesamt sind sie darauf ausgerichtet, das Selbstwertgefühl stabil zu halten. Das wiederum steht in Zusammenhang mit ...

• Begeisterung
• Schaffensfreude
• Kreativität
• Spontaneität
• Innovation
• Einfallsreichtum
• emotionaler Intelligenz

Das 2. Bezugssystem ist vom abwägenden oder auch diplomatischen Denken eines rationalen Erwachsenen bestimmt. Es ist ...

• normativ,
• formal,
• korrekt,
• regelhaft,
• kollektiv,
• kontrolliert
• gewissenhaft.

Willensstärke, Pflichterfüllung, Verantwortungsbewusstsein und Anpassung an soziale Erwartungen und Rollenzuweisungen: das sind die tragenden Säulen dieses Bezugssystems. Seine Strategien orientieren sich an objektiven Zielen, die vom Leistungsprinzip bestimmt sind. Wir können deshalb von Erwachsenen-Strategien oder kurz E-Strategien sprechen.
E-Strategien sind rational, logisch, analytisch und gedankenschwer. Wer diesen Strategien überwiegend folgt, funktioniert allerdings auf "emotionaler Sparflamme". Er/sie verrichtet seine/ihre Arbeit mechanisch, macht Dienst nach Vorschrift und ist von seiner/ihrer Aufgabe nicht unbedingt begeistert. Dieser Mensch ist in seiner Lebensgestaltung weniger beweglich. Bildlich gesprochen, verharrt er/sie auf dem Standbein.


2.1 Innovative Verknüpfungen erzeugen komische Kontraste

Werden K-Strategien und E-Strategien unmittelbar miteinander verknüpft, kann sich häufig ein komischer Kontrast ergeben. Arthur Koestler (1990, S.155) führt diesen Kontrast auf das Wahrnehmen einer Situation oder eines Ereignisses in zwei sich gegenseitig ausschließenden Assoziationsrahmen zurück. Er schreibt:

»Das Ergebnis ist eine abrupte Verlagerung des Bewusstseinstroms in ein anderes Bett, das von einer anderen Logik oder "Spielregel" beherrscht wird. Dieser intellektuelle Sprung täuscht unsere Erwartungen; die Emotionen, die jene Erwartungen geweckt haben, sind plötzlich überflüssig und werden auf dem Weg des geringsten Widerstands mit Lachen freigesetzt. Was dabei auf harmlose Weise im Lachen entladen wird, ist vom Denken verlassene Emotion.«

Wenn jemand zu einem Sonntagsanzug schwere Bergschuhe trägt, wenn bei einem Sommerfest ein Weihnachtslied angestimmt wird, wenn der Nikolaus bunte Ostereier verschenkt – stets kommen inkongruente Bestandteile zusammen und es ergibt sich ein entsprechender komischer Kontrast! Dieser Kontrast ergibt sich auch, wenn ein vernünftiger Erwachsener plötzlich wie ein albernes Kind zu argumentieren beginnt. Dadurch entsteht ein "intellektueller Sprung" (Koestler 1990, 155), der einen "kreativen Mix" (Titze 2004b, 2) bewirkt, der verblüffen und amüsieren kann. Hier einige Beispiele:

  • Der Mitarbeiter kommt fünf Minuten zu spät zur Besprechung, sein Chef schaut bedeutungsvoll auf die Armbanduhr. Sein Untergebener fragt mit strahlender Unschuldsmiene: »Kann man mit der auch tauchen?«
  • Im Lift kommt ein Betriebsangehöriger der attraktiven Mitarbeiterin etwas zu nahe. Sie schreit gellend: »Mama, ein böser Onkel hat mich angefasst!«
  • Ein trockener Alkoholiker trinkt bei geselligen Anlässen nur Orangensaft. Ein indiskreter Zeitgenosse fragt ihn, weshalb er eigentlich keinen Wein trinke. Die trockene Antwort: »Weil ich unbedingt gelbes Pipi haben will!«

Dieses Springen zwischen unterschiedlichen Bezugssystemen macht es möglich, die Realität aus einem neun Blickwinkel wahrzunehmen. So werden Perspektiven "ver-rückt" und Zusammenhänge hergestellt, die wir "normaler Weise" nicht vorfinden. Ein Beispiel ist die folgende Feststellung, die wahrscheinlich auf Kurt Tucholsky zurückgeht: »Nichts ist verächtlicher, als wenn Literaten Literaten Literaten nennen.« (Die Rechtschreibprüfung jedes Textverarbeitungsprogramms meldet hier einen Fehler!)
Der amerikanische Komiker Groucho Marx definierte Humor kurz und bündig als «»verrückt gewordene Vernunft. Von Groucho Marx stammt auch dieser Ausspruch: »Ich würde niemals Mitglied in einem Verein werden, der mich als Mitglied akzeptiert.« Im folgenden finden sich weitere innovative Verknüpfungen:

  • »Darf ich Ihnen etwas im Vertrauen sagen?« – »Wenn ich ehrlich sein darf: Das Hinterhältige ist mir lieber!«
  • »Wenn Sie ein Heuchler sein wollen, sollten Sie es wenigstens damit ehrlich meinen!« (Waleed A. Salameh)
  • Maßhalten sollte man nie übertreiben!
  • »Man kann einer Versuchung nur entgehen, indem man ihr erliegt!« (Oscar Wilde)
  • Liebet euere Feinde – das schadet ihrem Ruf!
  • »Die beste Versicherung gegen Haarausfall ist eine Glatze!« (Telly Savalas)
  • Spontaneität will gut überlegt sein.
  • »Die Zukunft war früher auch besser!« (Karl Valentin)


2.3 Der Dummschlaue

Ein elementarer komischer Kontrast ergibt sich, wenn Dummheit (Naivität, Beschränktheit, Unwissenheit) und Klugheit (Intelligenz, Bildung, Gelehrsamkeit) miteinander verknüpft werden. Auf diesen Kontrast greift die(Selbst-)Ironie besonders gerne zurück. So erklärte Karl Valentin einmal: »Ich gehe mich mal besuchen. Hoffentlich bin ich auch zuhause!« Und als Valentin bei einer anderen Gelegenheit gefragt wurde, ob er schon wisse, das Alois Maier gestorben sei, gab er zur Antwort: »Deswegen sieht man ihn jetzt so selten!«

Von Woody Allen (1978, 33) stammen diese inkongruenten Aussagen:

  • »Es gibt nicht nur keinen Gott, sondern versuch mal, einen Klempner am Wochenende zu kriegen!«
  • »Es ist unmöglich, unvoreingenommen seinen eigenen Tod zu erleben und dabei ruhig weiterzusingen.«
  • »Das Universum ist bloß eine flüchtige Idee im Geiste Gottes – ein ziemlich unbehaglicher Gedanke, besonders, wenn man gerade eine Anzahlung für ein Haus geleistet hat.«
  • »Was wäre, wenn alles nur eine Illusion wäre und nichts existierte? In diesem Fall hätte ich für meinen Teppich definitiv zu viel gezahlt.«

Die Synthese von Dummheit und Klugheit führt dazu, dass gerade der Sinngehalt existentiell schwerwiegender Aussagen ironisiert und damit relativiert wird. Ein vorzügliches Beispiel bietet der Galgenhumor. So erwähnt Freud ([1927] 1982, 277) einen zum Tode Verurteilten, der in der Frühe des Montagmorgens dem Scharfrichter zuruft: »Na, die Woche fängt ja gut an!« Freud meint, die »humoristische Leistung« bestünde darin, dass der Delinquent die Realität (scheinbar) verkennt, sich also bewusst dumm gibt. Erst unter dieser Voraussetzung wird die an sich hoffnungslose Realität relativierbar: »Nehmen wir an, [...] der Verbrecher hätte gesagt: Ich mach' mir nichts daraus, was liegt denn daran, wenn ein Kerl wie ich aufgehängt wird, die Welt wird darum nicht zugrunde gehen, - so müssten wir urteilen, diese Rede enthält zwar diese großartige Überlegenheit über die Realität, sie ist weise und berechtigt, aber sie verrät auch nicht die Spur von Humor, ja sie ruht auf einer Einschätzung der Realität, die der des Humors direkt zuwiderläuft.« (ebd., 278)


3. Paradoxe Doppelbindungen

Nach Watzlawick, Beavin und Jackson (1971, 72ff) ist es unmöglich, nicht zu kommunizieren. Demnach hat jede Mitteilung einen Sinn, der allerdings nur dann verstehbar ist, wenn die jeweilige Mitteilung einem bestimmten Bezugssystem zugeordnet werden kann. Werden hingegen Bezugssysteme miteinander verknüpft, die in einem widersprüchlichen Verhältnis zueinander stehen, können sich "Doppelbindungen", d.h. inkongruente, inkonsistente oder paradoxe Aussagen ergeben. So kann eine verbale Botschaft vermittelt werden, während gleichzeitig körpersprachlich eine gegenteilige Botschaft zum Ausdruck kommt. Damit kann das offen Ausgesprochene durch das indirekt Thematisierte völlig in Frage gestellt werden. Das ist etwa der Fall, wenn jemand das Fachwissen seines Vorgesetzten wortgewaltig lobt, während er gleichzeitig gähnt. Doppelbindungen finden sich auch in den folgenden Beispielen:

  • Jemand beteuert, ein sehr ängstlicher Mensch zu sein. Dabei nimmt er die Körperhaltung von King Kong ein.
  • Ein Angestellter behauptet bei einer Weihnachtsfeier, der mächtigste Mann im Betrieb zu sein. Er sagt dies leise flüsternd und aus einer geduckten Haltung heraus, während er sich die Hände schützend vors Gesicht hält.
  • Bei einer Diskussion beschreibt ein Teilnehmer vehement die Vorzüge des Zölibats, während er gleichzeitig obszöne Handbewegungen macht.

Gerade doppelgebundene Sprachspiele eröffnen den Zugang zur paradoxen Welt einer ungeregelten Kreativität ist. Für William F. Fry (1992) ist das kommunikative Chaos deshalb der eigentliche Nährboden der Humorentstehung. Als Voraussetzung gilt die Regel: es gibt keine Regel! Professionelle Humoristen bedienen sich dieser Paradoxie, indem sie Zusammenhänge herstellen, die im Hinblick auf die Relevanzkriterien unserer Alltagslogik "regelwidrig" bzw. "absurd" sind. So stellte Woody Allen zum Beispiel fest: »Der Nihilismus behauptet, dass es kein Leben nach dem Tode gibt. Ein deprimierender Gedanke, besonders für einen, der sich nicht rasiert hat!« Und Groucho Marx erklärte: »Wenn ich ein Pferd hätte, würde ich Ihnen die Sporen geben.«


3. 1 Die »vernünftige Unvernunft«

Für paradoxe Sprachspiele interessierte sich auch die dadaistische Bewegung, die sich als »Ulk mit Weltanschauung« definierte. Dada entstand in den Jahren des 1. Weltkriegs als Reaktion auf eine Staatsräson, der Hunderttausende junger Menschen auf den Schlachtfeldern grausam zum Opfer fielen. Dieser unvernünftigen Vernunft wollte Dada mit einer vernünftigen Unvernunft begegnen, die logische Widersprüche konsequent aufhebt und gezielt auf Groteske, Nonsens und Ironie zurückgreift.
Richard Huelsenbeck (1892-1972) war ein Mitbegründer von Dada. Von Anfang an galt sein Interesse der Psychoanalyse, denn die prälogischen Operationen kindlichen Denkens, die in den sog. Primärprozessen zum Ausdruck kommen, waren mit dem Grundanliegen von Dada überaus kompatibel (vgl. Titze 2006). Auch die Einbeziehung des Zufalls in der für Dada typischen automatischen Niederschrift wurde als »Offenbarung des Unbewussten« angesehen (Best 2000, 291). Ein Auszug aus Huelsenbecks Gedicht »Flüsse« soll dies illustrieren:

»[...] O ihr Flüsse unter der ponte di sospiri fanget ihr auf Lungen und Lebern und abgeschnittene Hälse
In der Hudsonbay aber flog die Sirene oder ein Vogel Greif oder ein Menschenweibchen von neuestem Typus
Mit eurer Hand greift ihr in die Taschen der Regierungsräte die voll sind von Pensionen allerhand gutem Willen und schönen Leberwürsten [...]«

Huelsenbeck erfand zudem das poème gymnastique, bei dem die Rezitation eines Gedichtes mit inkongruenten Körperbewegungen kombiniert wird. Entsprechende komische Kontraste ergaben sich auch, wenn Huelsenbeck wesensfremde Elemente wie zum Beispiel Evangelium und Tongebilde aus simultan erfassten Umweltgeräuschen kombinierte, um eine groteske Wirkung zu erzielen (vgl. Best ebd.).
1936 emigrierte Huelsenbeck in die USA und nannte sich fortan Charles T. Hulbeck. Er nahm die Identität eines "richtigen" Psychoanalytikers an, der Patienten behandelte und, seit 1946, als Lehranalytiker an einem New Yorker Ausbildungsinstitut fungierte. In diesem Zusammenhang kontaktierte ihn 1953 der junge Albert Ellis, der bis Ende 1955 Huelsenbecks Analysand war (Hoellen 1993). Einige Jahre später begründete Ellis eine eigene therapeutische Schule, die Rational-emotiven Therapie. In diesem Ansatz wird der Kontrast zwischen Vernunft und Unvernunft, zwischen flexibler Kreativität und unlebendiger Starrheit in einer häufig sehr humorvollen Weise hergestellt und immer wieder spielerisch überzeichnet. Ein Beispiel sind die von Ellis (1977, 1989) verwendeten »Schamüberwindungsübungen«, die sich vor allem bei der Behandlung von Sozialphobien bestens bewährt haben (vgl. Titze 2004a, 275ff; Titze & Eschenröder 2003, 104ff). So schlägt Ellis seinen Patienten zum Beispiel vor:

  • »Geben Sie eine Schwäche zu, die die meisten Menschen normalerweise verachten, z.B. "Ich kann nicht buchstabieren".«
  • »Verhalten Sie sich komisch, indem Sie auf der Straße singen oder an einem sonnigen Tag einen schwarzen Regenschirm aufspannen.«
  • »Versuchen Sie, eine Uhr bei einem Schuster reparieren zu lassen.«
  • »Fragen Sie in einem Geschäft nach einem Schraubenzieher für Linkshänder«.
  • »Gehen Sie mit erhobenen Händen durch eine Fußgängerzone.«
  • »Rufen Sie in der Straßenbahn die Stationen laut aus.«

Ellis (1977, 264ff) schreibt: »Eines der Hauptanliegen rational-emotiver Therapie ist das bedingungslose Annehmen menschlicher Fehler und Idiotien. [...] Als einer meiner Klienten berichtete, er könne in einer öffentlichen Bedürfnisanstalt nicht defäzieren, fragte ich ihn nach dem Grund. Er meinte, der Bursche in der Nachbarkabine würde seine unangemessenen Geräusche mitkriegen und sich etwas Abfälliges dabei denken. So fragte ich ihn: "Was erwarten Sie, wenn Sie auf Ihrer Kloschüssel sitzen und die richtigen Geräusche machen? Soll der Kerl in der anderen Box aufstehen und die amerikanische Nationalhymne anstimmen?"«


3.2 Der Therapeut als Hofnarr


Ein weiterer Protagonist therapeutischen Humors ist Frank Farrelly, dessen Provokative Therapie mit den absurdesten Übertreibungen arbeitet, um dadurch starre Überzeugungen und Perfektionsansprüche der KlientIn aus den Angeln zu heben. Farrelly sieht seinen Ansatz unlösbar mit einem Humor verbunden, wie dieser seit jeher vom Schalksnarren und Clowns ausgelebt wurde. In eben dieser Rolle soll der Therapeut ein Identifikationsobjekt für Menschen sein, die sich vor ihrer eigenen Unvollkommenheit fürchten. So eröffnete Farrelly (1991, S. 14) einmal ein Symposium mit den folgenden Worten:

»Ich bin ganz fest auf der Seite der Engel. Und ich dachte, ich könnte sagen, ich wüßte im allgemeinen, was provokative Therapie sei. Und ich denke, in gewisser Weise weiß ich immer weniger und weniger, was das ist. Nun, das liegt wohl weniger daran, daß sie so kompliziert ist, sondern vielleicht daran, daß ich immer mehr und mehr zu einem Dummkopf werde.«

Eleonore Höfner und Hans-Ulrich Schachtner (1997) beschreiben die Vorgehensweise der provokativen Therapie, in der die TherapeutIn bewusst aus der Rolle der empathischen HelferIn fällt – also ein "Kontrastprogramm" zum konventionellen professionellen Bezugsrahmen inszeniert! Dies sieht so aus:

»Wir übertreiben hemmungslos auf allen Kanälen, nicht nur inhaltlich, sondern auch verbal, mimisch und stimmlich, bis der Klient entweder lachend oder ärgerlich abwinkt. Und dann machen wir noch ein bisschen weiter.« (ebd. 126).

Als Beispiel wird eine durchaus attraktive Frau angeführt, die sich mit folgendem Problem an Frank Farrelly (ebd., 121; vgl. Farrelly & Brandsma 1986, 239) wandte: »Wenn mich mal ein Mann anspricht, dann doch nur, um mit mir zu schlafen. Wenn ich so hübsch wäre wie meine Schwester, dann hätte ich auch Chancen! Aber so!«
Darauf Farrelly mit gespieltem Ekel: »Mir ist klar, was Sie meinen. Nur ein schielender Frosch würde sich mit einer Person wie Ihnen einlassen. Mit so großen Füßen, dicken Fesseln, Sulzknien, O-Beinen.«
Einwand der Klientin: »Nein, ich bin X-beinig!«
Farrelly: »Na gut, dann eben X-beinig, aber diese dicken Schenkel, dieser Hängea ..., äh, -hintern, Kugelbauch, Schwimmreifen, wo die Taille sitzen müsste, Schultern wie ein Preisboxer, Kinn wie eine Schublade, Henkelohren, Kartoffelnase, buschige Augenbrauen, winzige Schweinsäuglein und Haare, die aussehen wie ein verlassenes Rattennest! Igitt! Aber ich will auch mal was Positives sagen: Ihre Zähne sehen gar nicht so übel aus!«
Klientin, explosiv lachend: »Und die sind falsch!«


4. Übungsbeispiel

Bei meinen Seminaren lasse ich die Teilnehmer für bestimmte reale Situationen möglichst absurde Antworten finden. So wird garantiert ein komischer Kontrast hergestellt (vgl. Titze 2004b, 6f). Ein Beispiel bietet die Strandszene, in der ein Möchtegern-Papagallo von einer sonnenbadenden Dame wissen möchte, ob sie »auch im Urlaub hier« sei.
Und hier einige Antworten:

  • »Ich habe nur die letzte Straßenbahn verpasst«
  • »Ich warte auf den Chor der Engel.«
  • »Ich observiere Außerirdische.«
  • »Ich stalke einen Orang Utan.«
  • »Ich warte auf den nächsten Schneesturm.«
  • »Ich brüte Kaulquappen aus.«
  • »Ich bin gerade dabei, mich in Erdbeermarmelade zu transformieren.«

5. Literatur

Adler, A. ([1927] 1982) : Zusammenhänge zwischen Neurose und Witz. In Adler, A.: Psychotherapie und Erziehung I. Frankfurt: Fischer-Verlag., 178 – 181.
Allen, W. (1981): Wie du dir so ich mir. Reinbek: Rowohlt-Verlag.
Best, O. F. (2000): Die deutsche Literatur in Text und Darstellung. Expressionismus und Dadaismus. Stuttgart: Reclam.
Ellis, A., (1977) : Fun as psychotherapy. In Ellis, A., and Grieger, R. (Eds.) Handbook of Rational-Emotive Therapy, New York: Springer.
Ellis, A. (1989) Training der Gefühle. München: mvg.
Ernst, H. (2003): Intuition. Können wir unserem Bauchgefühl vertrauen? Psychologie Heute, 30/3, 20 – 27.
Farrelly, F., (1991): Playing the Devil's Advocate. Des Teufels Advokat spielen. Konstanz: Verlag Rößler & Partner.
Farrelly, F. & Brandsma, J. M. (1986): Provokative Therapie. Berlin – Heidelberg – New York: Springer-Verlag.
Freud, S. ([1927] 1982): Der Humor. In Studienausgabe, Band IV. Frankfurt: Fischer-Verlag.
Fry, W. F. (1992): Humor and chaos. International Journal of Humor Research, 5, 219-232
Hofstadter, D. R. (1986): Gödel, Escher, Bach. Ein Endlos Geflochtenes Band. Stuttgart: Klett-Cotta.
Höfner, E. & Schachtner, H.-U. (1997): Das wäre doch gelacht! Reinbek: Rowohlt Verlag.
Hoellen, B. (1993): Richard Huelsenbeck und Albert Ellis. Zeitschrift für Rational-Emotive Therapie, 4/1, 5 - 37.
Koestler, A. (1990): Der Mensch – Irrläufer der Evolution. Frankfurt/Main: Fischer Verlag.
Lyotard, F. ([1979] 1999),: Das postmoderne Wissen. Wien: Passagen-Verlag.
Plessner, H. (1950): Lachen und Weinen. München: Leo Lehnen-Verlag.
Preisendanz, W. (1974): Das Komische, das Lachen. In Ritter, J. & Gründer, K. (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 4. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 889 – 893.
Theewen, G. (1992): Joseph Beuys und der Humor. Kunstforum International, Band 120, 114 – 132.
Titze, M. (1986): Affektlogische Bezugssysteme. Zeitschrift für Individualpsychologie, 11, 103 – 110.
Titze, M. (2004a): Die heilende Kraft des Lachens. München: Kösel-Verlag.
Titze, M. (2004b): Comical contrasts – the easiest route to humor creation. Humor&Health Journal, XIII-4, 1 – 7.
Titze, M. (2006): The dadaistic roots of therapeutic humor. Humor&Health Journal, XV-1, 1 – 6.
Titze, M. & Eschenröder, C. T. (2003): Therapeutischer Humor. Grundlagen und Anwendungen. Frankfurt: Fischer Verlag.
Titze, M. & Patsch, I. (2006): Die Humor-Strategie. München: Kösel-Verlag.
Watzlawick, P., Beavin, J. H. & Jackson, D.D. (1971): Menschliche Kommunikation. Bern, Stuttgart, Wien: Hans Huber.
Watzlawick, P., Weakland, J.H. & Fisch, R. (1974): Lösungen. Zur Theorie und Praxis menschlichen Wandels. Bern, Stuttgart, Wien: Hans Huber.
Welsch, W. (1997): Unsere postmoderne Moderne. Berlin: Akademie-Verlag.


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